Geschichten, die beflügeln (in Fortsetzung)

Wo Himmel und Erde sich berühren

Wo Himmel und Erde sich berühren

Es waren zwei Mönche. Sie lasen miteinander in einem alten Buch.

Am Ende der Welt gebe es einen Ort, an dem Himmel und Erde sich berühren. Da beschlossen sie ihn zu suchen. Und nicht umzukehren, ehe sie ihn gefunden hätten.

So durchwanderten sie die Welt. Bestanden zahllose Gefahren. Erlitten sämtliche Entbehrungen, die eine Wanderung durch die ganze Welt fordern. Und obendrein auch viele Versuchungen, die Menschen vom Ziel abbringen können.

Eine Tür sei dort, hatten sie gelesen. Man brauche nur anklopfen und befinde sich bei Gott. Schließlich fanden sie, was sie suchten. Klopften an die Tür, bebenden Herzens, und sahen, wie sie sich öffnete.

Als sie eintraten, standen sie zu Hause in ihrer Klosterzelle. Da begriffen sie: Der Ort, an dem Himmel und Erde sich berühren, befindet sich auf dieser Erde; an der Stelle, die Gott uns zugewiesen hat.

(aus: "77 Traumfenster", hg. v. Willi Hoffsümmer, Patmos 2012)

 

Die heilige Flamme

Osterleuchter - Kunststation St. Peter, Köln

Es war ein Mann, der hatte davon gehört, dass an einem fernen Ort eine heilige Flamme brennt. Und er machte sich auf, um dieses Licht zu sich nach Hause zu tragen.

Er hatte die Vision: Wenn du dieses Licht besitzt, dann hast du das Leben und Glück. Nun ist er gerade auf dem Heimweg. Und sehr in Sorge, die Flamme könnte erlöschen.

Da trifft er jemand, ohne Feuer, frierend. Dieser bittet ihn, ihm von seinem Feuer abzugeben. Erst will er nicht. Dieses heilige Feuer für eine so weltliche Sache. Das geht nicht. Dann aber gibt er doch.

Auf dem weiteren Weg gerät der Mann in einen schlimmen Sturm. So sehr er auch sein Licht schützt. Die Flamme erlischt. Da erinnert er sich des anderen, dem er von seinem Licht abgegeben hat.

Den weiten Weg zurück zum heiligen Ort über Meere und Ströme hätte er nicht mehr geschafft. Aber zu dem anderen, dem er geholfen hat, kann er zurück. 

(aus: "77 Traumfenster", hg. v. Willi Hoffsümmer, Patmos 2012)

 

Meisterwerke

Meisterwerk

Lange Zeit war der Leiter des Altenheims skeptisch. War es wirklich eine gute Idee, die beiden Künstler in ein Zimmer zu legen. Doch er hegte Hoffnung. Die Interessen der beiden mögen sich ergänzen.

Sie waren Maler. Doch von sehr unterschiedlichem Temperament. Während der eine mit zahlreichen Ausstellungen weit über die Landesgrenzen hinweg bekannt wurde, hatte der andere als Pädagoge gelebt; seine Malerei war jedoch kaum über die eigenen vier Wände hinaus bekannt. Zudem tat er sich, als eher nachdenklicher Typ, schwer, auf andere zuzugehen, sich ihnen gar zu öffnen.

So brauchte es eine Weile, bis sich beide aneinander gewöhnt hatten. Doch dann fielen ihnen auch die Gespräche leichter. Bis sie schließlich stundenlang über Kunst redeten, und natürlich das Leben. Sie spielten sogar Schach, lasen gemeinsam oder hingen einfach schweigend ihren Gedanken nach.

Einmal die Woche kam die Tochter des Lehrers zu Besuch. Dann ging es oft auch recht munter zu in dem Altherrenzimmer. Denn die Tochter hatte zuweilen die zwei Enkel dabei. Sie brachten Blumen und kleine Geschenke mit, und der Schwiegersohn stellte ab und zu eine Flasche Rotwein auf den Tisch.

Eines Abends saßen nun die beiden alten Männer alleine in ihrem Zimmer und tranken schweigend den guten Wein. "Es war immer mein Traum, eines Tages ein großartiges Bild zu malen", sagte der Lehrer plötzlich. "Ich habe mit diesem Bild gelebt, konnte es sehen, in allen Einzelheiten: seine Leuchtkraft, die Struktur, die Lichtwirkung - ein Meisterwerk. Aber es war mir nicht vergönnt, es zu malen. Ich schaffte es nicht. Ich habe es geträumt, aber nicht geschaffen. Ich habe versagt!"

"Was bist du bloß für ein alter Trottel", schimpfte sein Gefährte. "Hast du denn nicht verstanden, dass jeder nur ein einziges, wahres Meisterwerk schaffen kann? Das Leben! Alles, was man tut, gibt und denkt, wie Erhaltenes verwendet oder Zeit gestaltet wird, Farbe bekommt, das ist das Meisterwerk! Und du trauerst einem ungemalten Bild nach. Dabei hast du wahrscheinlich mehr Menschen Liebe zur Kunst vermittelt, als dein ach so geniales Meisterwerk es jemals vermocht hätte! Was habe ich denn schon geschaffen? Kommen etwa meine Bilder zu mir? Bringen sie mir Zuneigung und Lachen, schenken sie mir guten Wein? Nein, sie hängen in dunklen Museen - genau wie ich nun."

Es herrschte ein paar Minuten betroffenes Schweigen. Dann erhob sich der Lehrer aus seinem Sessel, ging zu seinem Gefährten und umarmte seinen Freund mit hilfloser Geste.

(aus: "77 Traumfenster", hg. v. Willi Hoffsümmer, Patmos 2012)

 

Der Seiltänzer

Der Seiltänzer

In einer kleinen Stadt spannt ein Seiltänzer sein Seil quer über den Marktplatz. Er beginnt auf dem Seil zu balancieren, mit einem Stab in der Hand, aber ohne Netz – und hoch über dem Boden.

Die Menge hält den Atem an, als der Seiltänzer seine Kunststücke vorführt und auf dem Seil von einem Ende zum anderen läuft.

Tosender Beifall, die Menschen staunen, fordern eine Zugabe. Noch einmal macht sich der Seiltänzer auf den Weg, wieder schauen die Menschen ihm mit offenen Mündern zu, staunen und jubeln, als er am anderen Ende ankommt.

Da nimmt er eine Schubkarre, setzt sie auf das Seil und blickt abermals in die Menge: „Glaubt ihr, dass ich es auch schaffe, diesen Karren über das Seil zu schieben?“

„Na klar“, rufen die Leute, „gar kein Problem, wir glauben es!“ – „Gut“, ruft da der Seiltänzer, „wenn ihr mir das zutraut – wer möchte sich denn dann in die Schubkarre setzen?“

Nun wurden die Mienen der Zuschauer ängstlich. Das Geschrei verstummt, alle schweigen und blicken zu Boden. Nein, sich in den Karren zu setzen, dass ging dann doch zu weit!

Da meldet sich ein kleiner Junge: „Ich setze mich in den Karren“. Die Menschen sind unruhig, wollen ihn davon abhalten, doch zu spät. Der Junge setzt sich in die Schubkarre, der Seiltänzer beginnt seinen Weg, das Seil schwankt, der Wind pfeift. Doch Schritt für Schritt läuft der Seiltänzer über das Seil.

Als er am anderen Ende ankommt, jubeln die Menschen ihm zu, klatschen, sind begeistert. Und der Junge wird gefragt: „Hast du denn gar keine Angst gehabt?“ „Nein“, antwortet der Junge, „warum auch? Der Seiltänzer dort, das ist ja mein Vater!

 

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