Das Hirtenlied
Es war einmal ein alter Hirte. Der liebte die Nacht, und wusste genau um den Lauf der Gestirne. Auf seinen Stock gestützt und den Blick zu den Sternen erhoben, stand der Hirte mit seinen Söhnen und seinem Enkel auf dem Feld.
"ER wird kommen!“ sagt der alte Hirte.
"Wer wird kommen?“ fragt ihn sein Enkel neugierig.
"Der Heiland, der Sohn Gottes, unser Himmelskönig!“ erwidert der alte Hirte. "Wann wird ER kommen?“ fragt der Enkel. „Bald!“
Die andern Hirten lachten nur: "Bald! Haha. Das sagst du seit Jahren!“
Der Alte kümmerte sich nicht darum. Doch die Zweifel in den Augen seines Enkels betrübten ihn. Wer sollte denn, wenn er starb, die Weissagungen der Propheten weitertragen? Wenn ER doch nur bald käme! Sein Herz war voller Sehnsucht und Erwartung.
"Wird ER eine goldene Krone tragen?“ unterbrach der Enkel seine Gedanken. - ,,Ja!“
"Und ein silbernes Schwert?“ - ,,Ja!“
"Und einen purpurnen Mantel?“ - ,,Ja! Ja!“
Der Enkel war zufrieden. Das würde ein toller König sein. Und er würde für ihn ein Lied auf seiner Flöte spielen. Der Junge sah sich schon vor ihm stehen. Der König auf einem weißen Pferd mit prächtigen Kleidern, einem großen Schwert; er würde dem kleinen Hirtenjunge beim Flötenspiel zuhören. Und dann, nach dem Flötenspiel würde er ihm sicher Silber und Gold schenken. Alle würden ihn beneiden.
Der Junge saß auf einem Stein und spielte auf seiner Flöte. Der Alte lauschte. Der Junge spielte von Mal zu Mal schöner. Er übte am Morgen und am Abend, Tag für Tag. Er wollte bereit sein, wenn der König kam. Keiner spielte so schön die Flöte wie er.
Der Alte wusste wohl von den Gedanken seines Enkels und fragte ihn sanft: ,,Würdest du auch für einen König ohne Krone, ohne Schwert, ohne Purpurmantel spielen?“ - ,,Nein!“ sagte der Enkel.
Der Enkel dachte nämlich: Wie sollte ein König ohne Krone, ohne Schwert, ohne Purpurmantel ihn für sein Lied beschenken? Das ging doch nicht! Ein König ist immer stark, mutig und reich. Der mächtige König würde ihn mit Gold und Silber reich machen, und die andern würden staunen und ihn beneiden.
Der alte Hirte war traurig. Warum bloß hatte er dem Enkel versprochen, was er selbst nicht glaubte! Wie würde der Heiland, der Sohn Gottes denn kommen? Auf Wolken aus dem Himmel? Aus der Ewigkeit? Als Kind? Arm oder reich? Das konnte doch vorher niemand wissen! Und er hatte seinem Enkel von einem herrlichen König erzählt, um ihn eine Freude zu machen!
Bestimmt wird Gottes Sohn ohne Krone, ohne Schwert, ohne Purpurmantel kommen - und doch wird er mächtiger sein als alle anderen Könige. Denn seine Macht ist die Liebe Gottes, die Liebe Gottes zu den Menschen. Wie sollte er das dem Enkel begreiflich machen?
Eines Nachts standen die Zeichen am Himmel, nach denen der Großvater Ausschau gehalten hatte. Die Sterne leuchteten heller als sonst. Über der Stadt Bethlehem stand ein großer Stern. Und dann erschienen die Engel und sagten: „Fürchtet euch nicht! Euch ist heute der Heiland geboren!“
Der Junge lief voraus, dem Licht entgegen. Unter dem Fell auf seiner Brust spürte er die Flöte. Er lief so schnell er konnte. Er stand als erster da und starrte auf das Kind. Es lag in Windeln in einer Krippe. Ein Mann und eine Frau betrachteten es froh. Die anderen Hirten, die ihn eingeholt hatten, fielen vor dem Kind auf die Knie. Der Großvater betete es an. War das nun der König, den er ihm versprochen hatte? Nein, das musste ein Irrtum sein. Nie würde er hier sein Lied spielen.
Er drehte sich um, enttäuscht vor Wut, Zorn und Trotz. Dann trat er in die Nacht hinaus. Er sah weder den leuchtenden Stern am Himmel noch die Engel, die über dem Stall schwebten. Aber dann hörte er das Kind weinen. Er wollte es nicht hören. Er hielt sich die Ohren zu, lief weiter. Doch das Weinen verfolgte ihn, ging ihm zu Herzen, zog ihn zurück zur Krippe.
Da stand er nun zum zweiten Mal. Er sah, wie Maria und Joseph und auch die Hirten erschrocken das weinende Kind zu trösten versuchten. Vergeblich! Was fehlte ihm nur?
Da konnte er nicht anders. Er spürte jetzt genau, was dem Kinde fehlte. Er wusste, was das Kind wollte. Er zog die Flöte aus dem Fell und spielte sein Lied. Das Kind wurde still. Der letzte leise Schluchzer in seiner Kehle verstummte.
Das Kind schaute den Jungen an und lächelte. Da wurde der Hirtenjunge so froh und glücklich und spürte, wie das Lächeln ihn reicher machte als Gold und Silber. Und er verstand nun, warum Gottes Sohn mächtiger als alle Könige der Welt war.